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1 s brahms piano sonata 16 - Klavierstücke op.119 on Nakamatsu HMA 1957339 JOHANNES BRAHMS (1833-1897) KLAVIERSONATE Nr.3 FANTASIEN OP.116 KLAVIERSTÜCKE OP.119 JON NAKAMATSU Haben sich Kompositionsstil und musikalischer Gehalt je inniger vermählt als in der Musik von Brahms? Brahms, der die üblichen Stadien der künstlerischen Entwicklung weitgehend übersprungen hat, schrieb von Anfang an Werke von ungewöhnlicher Klugheit und einer Reife, deren Merkmal das Unsagbare ist. Seine gesamte Musik ist beseelt von wehmütiger Innerlichkeit, und im Alter, nach mehr als vierzig Jahren des Komponierens, hatte sich diese Wehmut zu einer Grundstimmung verdichtet, für die wir keinen Namen haben, eine poetische tristesse, eine Mischung aus Melancholie, Wehmut, Sehnsucht und Trauer. Das ist ureigenste Brahmssche Eigenart. Daß Brahms anders, ja schwierig war, war nicht zu übersehen. Nach der amerikanischen Erstaufführung des Klaviertrios op.8 im Jahr 1855 beispielsweise lobte The New York Times “viele Stärken und solides musikalisches Können”, bemängelte aber, daß die “Motive… an schon Gehörtes erinnern und einen leisen Zweifel aufkommen lassen, der insgesamt nicht gerechtfertigt ist…” 1 Ein Kritiker, der sich fragt, ob seine eigenen Zweifel berechtigt sind, ist schon an und für sich ein Faszinosum, dieser Vorgang läßt aber auch vermuten, daß dieses “schon Gehörte” nicht ein Thema als solches oder ein “Motiv” war, sondern eher ein, wenn auch weniger leicht zu definierender Geist, in dem Vergangenes nachhallte. Die Vergangenheit, die im Brahmsschen Schöpfergeist weiterwirkte, war die Klangwelt Beethovens, der Höhepunkt der musikalischen Klassik. Brahms hat indes niemals versucht, eine frühere Ästhetik künstlich am Leben zu erhalten – “Der Prozeß der Verknöcherung ist die Gewähr für Achtbarkeit”, schreibt Rosen auf der letzten Seite seiner unverzichtbaren wissenschaftlichen Abhandlung The Classical Style, und sie führt zu “Übungen in Schicklichkeit und Respekt”. 2 Brahms machte sich vielmehr das zunutze, was er von Beethoven, dem von ihm hochgeschätzten Komponisten, an grundsätzlichen Dingen lernen konnte, und schuf eine ihm selbst eigentümliche Musik. Für beide Komponisten war das Klavier das zentrale Mittel musikalischen Ausdrucks. Bei Beethoven läßt sich an den zweiunddreißig Sonaten die Entwicklung seines ganzen gewaltigen Schaffens nachvollziehen; am wechselnden Stil dieser Sonaten ist der musikalische Reifeprozeß vom Studenten bis zum Visionär abzulesen. Auch bei Brahms sind die Klavierwerke ein vollständiges Abbild seiner Musikerpersönlichkeit. Das erste Werk dieses Schaffens ist die Sonate op.1, deren Eröffnungsphrase unverkennbar der Eröffnung von Beethovens Hammerklavier-Sonate op.106 nachgebildet ist; die Klavierwerke von Brahms geben Auskunft über seine geistige Heimat und sind zugleich seine stilistische Unabhängigkeitserklärung. Am Ende stehen die Klavierstücke op.119. Das Ausdrucksmittel des Klaviers war für Brahms das Alpha und Omega. Als Pianist war Brahms ein Künstler hohen Ranges. Von der Pianistin Fanny Davies, Schülerin von Clara Schumann und erste Interpretin Brahmsscher Klavierwerke in England, ist eine detaillierte Beschreibung seiner pianistischen Fähigkeiten überliefert: “(Brahms) gehörte zu der Gattung [sic] von Klavierspielern einer Schule, die die Phrasen 1 Theodore Thomas: A Musical Autobiography, A.C. McClurg & Co., S. 40. 2 Charles Rosen, The Classical Style, W.W. Norton, S. 460.

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johannes brahmspiano sonata

Fantasien op.116 - Klavierstücke op.119

jon NakamatsuHMA 1957339

JOHANNES BRAHMS (1833-1897)

KLAVIERSONATE Nr.3 FANTASIEN OP.116KLAVIERSTÜCKE OP.119 JON NAKAMATSU

Haben sich Kompositionsstil und musikalischer Gehalt je inniger vermählt als in der Musik von Brahms?Brahms, der die üblichen Stadien der künstlerischen Entwicklung weitgehend übersprungen hat, schrieb von Anfang an Werke von ungewöhnlicher Klugheit und einer Reife, deren Merkmal das Unsagbare ist. Seine gesamte Musik ist beseelt von wehmütiger Innerlichkeit, und im Alter, nach mehr als vierzig Jahren des Komponierens, hatte sich diese Wehmut zu einer Grundstimmung verdichtet, für die wir keinen Namen haben, eine poetische tristesse, eine Mischung aus Melancholie, Wehmut, Sehnsucht und Trauer. Das ist ureigenste Brahmssche Eigenart. Daß Brahms anders, ja schwierig war, war nicht zu übersehen. Nach der amerikanischen Erstaufführung des Klaviertrios op.8 im Jahr 1855 beispielsweise lobte The New York Times “viele Stärken und solides musikalisches Können”, bemängelte aber, daß die “Motive… an schon Gehörtes erinnern und einen leisen Zweifel aufkommen lassen, der insgesamt nicht gerechtfertigt ist…”1 Ein Kritiker, der sich fragt, ob seine eigenen Zweifel berechtigt sind, ist schon an und für sich ein Faszinosum, dieser Vorgang läßt aber auch vermuten, daß dieses “schon Gehörte” nicht ein Thema als solches oder ein “Motiv” war, sondern eher ein, wenn auch weniger leicht zu definierender Geist, in dem Vergangenes nachhallte.Die Vergangenheit, die im Brahmsschen Schöpfergeist weiterwirkte, war die Klangwelt Beethovens, der Höhepunkt der musikalischen Klassik. Brahms hat indes niemals versucht, eine frühere Ästhetik künstlich am Leben zu erhalten – “Der Prozeß der Verknöcherung ist die Gewähr für Achtbarkeit”, schreibt Rosen auf der letzten Seite seiner unverzichtbaren wissenschaftlichen Abhandlung The Classical Style, und sie führt zu “Übungen in Schicklichkeit und Respekt”.2 Brahms machte sich vielmehr das zunutze, was er von Beethoven, dem von ihm hochgeschätzten Komponisten, an grundsätzlichen Dingen lernen konnte, und schuf eine ihm selbst eigentümliche Musik. Für beide Komponisten war das Klavier das zentrale Mittel musikalischen Ausdrucks. Bei Beethoven läßt sich an den zweiunddreißig Sonaten die Entwicklung seines ganzen gewaltigen Schaffens nachvollziehen; am wechselnden Stil dieser Sonaten ist der musikalische Reifeprozeß vom Studenten bis zum Visionär abzulesen. Auch bei Brahms sind die Klavierwerke ein vollständiges Abbild seiner Musikerpersönlichkeit. Das erste Werk dieses Schaffens ist die Sonate op.1, deren Eröffnungsphrase unverkennbar der Eröffnung von Beethovens Hammerklavier-Sonate op.106 nachgebildet ist; die Klavierwerke von Brahms geben Auskunft über seine geistige Heimat und sind zugleich seine stilistische Unabhängigkeitserklärung. Am Ende stehen die Klavierstücke op.119. Das Ausdrucksmittel des Klaviers war für Brahms das Alpha und Omega. Als Pianist war Brahms ein Künstler hohen Ranges. Von der Pianistin Fanny Davies, Schülerin von Clara Schumann und erste Interpretin Brahmsscher Klavierwerke in England, ist eine detaillierte Beschreibung seiner pianistischen Fähigkeiten überliefert: “(Brahms) gehörte zu der Gattung [sic] von Klavierspielern einer Schule, die die Phrasen

1 Theodore Thomas: A Musical Autobiography, A.C. McClurg & Co., S. 40.

2 Charles Rosen, The Classical Style, W.W. Norton, S. 460.

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mit Sorgfalt beginnt und mit Sorgfalt zu Ende führt und zwischen dem Ende der einen und dem Anfang der nächsten viel Raum läßt; und doch fügen sie sich ohne jede Lücke aneinander…”“Wie Beethoven legte er größten Wert darauf, daß seine Vortragszeichen (stets so wenige wie möglich) als Mittel zur Kenntlichmachung der tieferen musikalischen Bedeutung verstanden wurden. Das von Brahms verwendete Zeichen < > erscheint häufig dann, wenn es ihm um besondere Gefühlstiefe und Herzenswärme geht, nicht nur im Ton, sondern auch im Rhythmus. Er hielt sich nicht bei der einzelnen Note auf, vielmehr verweilte er bei einem ganzen Gedanken, als bringe er es nicht über sich, sich von seiner Schönheit loszureißen… Die Spielweise von Brahms war sehr frei, sehr geschmeidig und einfühlsam, aber stets ausgewogen – man spürte hinter der vordergründigen Rhythmik den Grundrhythmus des Ganzen. Seine Phrasierung in lyrischen Passagen war bemerkenswert… Wenn Brahms spielte, wußte man genau, was er seinen Hörern vermitteln wollte: Sehnsüchte, phantastische Höhenflüge, majestätische Gelassenheit, innige Zärtlichkeit ohne Sentimentalität, feinen, eigenwilligen Humor, echtes Gefühl, edle Leidenschaft.”3

Als Komponist war Brahms gleichermaßen geschätzt, zumindest in bestimmten Kreisen. Der einflußreichste war der um Robert Schumann, und als Brahms 1853 Schumann besuchte, hatte das weitreichende Folgen. Schumann schrieb einen berühmt gewordenen Aufsatz für die Neue Zeitschrift für Musik, in dem er den jungen Komponisten als einen “Auserwählten” der Musik begrüßte: “Ich dachte (…) es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise anzusprechen berufen wäre, einer der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge.”4

Dieser Aufsatz ist legendär und war von lang anhaltender Wirkung, dennoch ist eine Neubewertung dringend erforderlich. Schumann, der tief verstrickt war in die Interessenpolitik des Musiklebens seiner Zeit, brauchte einen Helden, den er zu seinem Bannerträger machen konnte – einen Komponisten, dessen künstlerische Vorlieben den seinen entsprachen – und in Brahms glaubte er ihn gefunden zu haben. Im Rückblick muß man aber sagen, daß dieses überschwengliche Lob unangemessen war. Brahms hatte damals gerade erst angefangen, sich als Pianist einen Namen zu machen. Als Komponist stand er noch ganz am Anfang und suchte noch seinen Weg; nicht umsonst hat er die meisten der Kompositionen, die er Schumann bei ihrer ersten Begegnung vorgespielt hat, später vernichtet. Was bezweckte Schumann also mit seinem Aufsatz? Es sollte nicht unerwähnt bleiben, was auch Jan Swafford in seiner sehr hilfreichen Brahms-Biographie5 ausführt, daß Schumann schon früher, lange bevor Brahms buchstäblich auf seiner Türschwelle erschien, so manchen Messias der Musik gesalbt hatte, darunter auch so zweitklassige Talente wie Ludwig Schunke und William Sterndale Bennett. Man könnte mit Swafford auch Vermutungen darüber anstellen, ob Schumann sich etwa homoerotisch zu Brahms hingezogen fühlte. Wie dem auch sei, schon die Überschrift des Schumannschen Aufsatzes, “Neue Bahnen”, entbehrt nicht der Ironie. Was Schumann für Brahms einnahm, waren nicht die innovativen Ideen des jungen Komponisten, sondern sein beharrliches Festhalten an den Traditionen. Man mag die Sonate op.1 von Brahms zu seiner Zeit als fundamental anders als andere Musik empfunden haben – die Gesten sind weit ausgreifend und oft unbeholfen, der Charakter trotzig, die technischen Anforderungen gewaltig –, dennoch hält sich das Werk an die kompositorischen Grundsätze, die Brahms bei Beethoven fand. Schumann hätte wohl besser daran getan, seinen Aufsatz “Alte Weisen” zu nennen.Unter den frühen Klaviersonaten von Brahms – denen, die erhalten sind – hat sich die Sonate op.5 in f-moll als die langlebigste erwiesen. Ohne einen Verweis auf Beethoven wie zu Beginn des Opus 2 (ein Werk, das nach dem Opus 5 entstand) hat Brahms damit dennoch ein umfangreiches und kraftvolles fünfsätziges Stück vorgelegt, das sich offen zur Tradition der Spätklassik bekennt. Nicht umsonst galt Brahms bei Schumann und seinen Freunden als “ein echter Beethovener”.6

Als Brahms Schumann aufsuchte, waren zwei Sätze dieser Sonate schon fertig, das Andante und das Intermezzo (mit dem Untertitel Rückblick), die übrigen Sätze komponierte er während der Zeit seines Aufenthalts bei den Schumanns. Das Werk mit seinem grandiosen Ebenmaß der Formgestaltung, dem kühnen Klaviersatz und der Fülle überschwenglicher Gesten – Schumann hatte diese frühen Sonaten als “verschleierte Symphonien” bezeichnet7 – muß nicht zuletzt durch die klangmächtige Eröffnung auf die ersten Hörer eine überwältigende Wirkung gehabt haben. Die erste Zählzeit von

3 Performing Brahms: Early Evidence of Performing Style, ed. Michael Musgrave & Bernard D. Sherman, Cam-bridge University Press, S. 303ff.

4 Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig, 1854.

5 Jan Swafford, Johannes Brahms: A Biography, Vintage, S. 86.

6 Swafford, S. 83.

7 Swafford, S. 85.

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Takt 1 ist mit dem Zeichen “F” versehen; sie wird forte gespielt und erstreckt sich über drei Oktaven der tiefen Lage der Klaviatur; sie hat, um das Ohr auf das Kommende vorzubereiten, den Wert einer Achtelnote, gefolgt von einer Achtelpause. Die zweite Zählzeit bringt ein rhythmisch-melodisches Motiv, das über mehr als zwei Oktaven der hohen Lage geht; die punktierten Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten festigen die Tonika und führen mit stark vorwärtsdrängender Wirkung einen Themenkern ein, der in die dritte Zählzeit übergeht, einen g-moll-Akkord in der ersten Umkehrung, der über eine Viertelnote ausgehalten wird. Dieser harmonisch leichte Klang fällt sehr wirkungsvoll auf eine rhythmisch schwere Zählzeit und leitet über zur Fortführung der sechstaktigen Eröffnungsphrase. In der Gestaltung dieses Satzes läßt Brahms einen unerschöpflichen Einfallsreichtum walten. Das in der zweiten Zählzeit des Eröffnungstaktes eingeführte Motiv beispielsweise taucht in seiner rhythmischen Verlängerung in Takt 5 wieder auf, kurz vor dem Ende der ersten Phrase. Und in dem Übergangsthema, das in den Takten 23 ff. erklingt, erscheint dieses Motiv erneut, diesmal in einer über zwei Takte erweiterten Gestalt in der rechten Hand und auf zwei Zählzeiten verdichtet in der linken. Man beachte auch die Fortschreitung der Baßlinie von Anfang an: die Abwärtsbewegung in Halbtonschritten erinnert an ein Passacaglia-Modell, wie Brahms es später mit so starker Wirkung im Finale seiner Vierten Sinfonie verwendet hat. Der Stimmungsgehalt des Andante der Sonate ist durch ein Incipit vorgegeben, drei Zeilen eines Liebesgedichts des deutschen Dichters C.O. Sternau (Pseudonym), das dem Satz als Devise vorangestellt ist. Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint, da sind zwei Herzen in Liebe vereint und halten sich selig umfangen.

Melodisch ist dieser Satz unverfälschter Brahms mit einem überaus gefühlvollen Thema von großer Wärme und der für ihn typischen, in Terzen absteigenden Gestalt. In der Durchführung fällt eine ausgedehnte Episode in Des-dur auf, die von derselben elegischen Ausdruckshaltung geprägt ist wie andere Abschnitte des Stücks, die in derselben Tonart stehen. Für Brahms war die Des-dur-Region, wie es scheint, ein Refugium, ein Ort der Entspannung gegenüber der erregteren Musik in der Grundtonart f-moll. Das Stück wird fortgesetzt mit einem Scherzo im Stil des Scherzos op.4 und des Scherzo-Satzes, den Brahms zu der sogenannten F-A-E-Sonate (Gemeinschaftswerk mit Schumann und Albert Dietrich) beigesteuert hat; es ist ein walzerartiger Satz von großer Leuchtkraft mit einem Trio-Abschnitt, der Anlaß zu einer harmonischen Rückung und damit einem Wechsel des Gefühlsausdrucks von f-moll nach Des-dur ist. Die interessanteste Neuerung dieser Sonate von Brahms ist ein zwischen Scherzo und Finale eingeschobenes “Intermezzo”, ein langsamer Satz mit dem Untertitel Rückblick. Dieser Rückblick, ein Zwischenspiel von hoher Klangpoesie, greift auf das Andante zurück und läßt noch einmal dessen Stimmung aufleben mit einer kleinen melodramatischen Nuance in Gestalt eines im Baß grollenden “Schicksals”-Motivs. Das Finale ist ein musikalisch und in seinem Ausdrucksgehalt vielgestaltiges Rondo, das im Dienste der ständig wechselnden Stimmungen variiert wird. Die kontrapunktische Schreibweise gegen Ende mag befremdlich erscheinen, doch kann man sie vielleicht als den typischen Fehlgriff eines jungen Komponisten entschuldigen – Brahms war knapp zwanzig Jahre alt, als er dieses Werk in Angriff nahm –, der es eilig hatte, erwachsen zu werden.Beinahe vierzig Jahre liegen zwischen der Sonate op.5 und den letzten Klavierwerken von Brahms, und im Laufe dieser langen Zeit hatte sich ein endgültiger Umschwung des Musikdenkens vollzogen. Die Epoche des Classical Style, wie Charles Rosen ihn beschreibt, war das Goldene Zeitalter einer Musikauffassung gewesen, die der Komponist und Musiktheoretiker Edward Cone8 als funktionelle Tonalität bezeichnet, in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts aber gab es unter den Komponisten Europas keine Einigkeit mehr über allgemein verbindliche Regeln in Bezug auf Harmonik, Melodik und Rhythmik. Die funktionale Tonalität und das System, auf das sie sich stützte, verlor immer mehr an Bedeutung. Diese neue Wirklichkeit wird in den Stücken des Opus 116 deutlich sichtbar; von den zusammenfassend als “Sieben Fantasien” bezeichneten Einzelstücken trägt keines diesen Namen, vielmehr nennt sie Brahms entweder Capriccio oder Intermezzo. Was sich Brahms dabei gedacht hat, ist unklar, es könnte aber der Einfluß Schumanns gewesen sein, dessen Werke Brahms zu der Zeit, als er das Opus 116 komponierte, gerade zur Herausgabe ordnete. Es finden sich unter den sieben Fantasien Stücke, die mit Schumanns Kreisleriana einen Hang zum überspannt Phantastischen gemeinsam haben. Brahms hatte seit den zwei Rhapsodien (op.79) von 1879 mehr als zehn Jahre nichts mehr für Klavier allein komponiert, und mit dem Opus 116 betrat er eine neue, veränderte Klangwelt. Es lassen sich mehrere Sätze herausgreifen, die sehr

8 Edward T. Cone, Music: A View from Delft, University of Chicago Press, S. 21.

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zur Unverwechselbarkeit dieses Zyklus beitragen. Das Capriccio in d-moll stiftet gleich zu Anfang Verwirrung: die Taktgrenzen verwischen sich, die Harmonien sind unrein, leichte Zählzeiten werden betont, und einfache Rhythmen werden durch regelwidrige Balkungen zu komplexen Rhythmen. “Dennoch”, schreibt der englische Pianist Denis Matthews, “ist der eigentümliche Charakter des Capriccios durch sachliche Stilanalysen wie diese nicht hinreichend zu erklären. Es ist dramatisch und dennoch sparsam in den Mitteln, es ist von sprühender Lebendigkeit und zugleich geisterhaft, es blitzt immer wieder Virtuosität auf, die aber durch gedankenvolle Versunkenheit in Schach gehalten oder ins Düstere gewendet wird – bis zur Zuspitzung gegen Ende. [Es ist] trotz seiner athletischen Kraft ein Stück sehr persönlichen Ausdrucks. Es reflektiert eher Virtuosität, als daß es sie zur Schau stellt, und insofern stimmt es mit dem Augenzeugenbericht von Richard Specht überein, der über den Brahms der letzten Jahre sagte, er habe stets so gespielt, als sei er allein; er konnte sein Publikum vollständig vergessen.”9

Es ist vielleicht kein Stück des Opus 116 extremer als das zarte Intermezzo in a-moll. In dem Zyklus – ja im Brahmsschen Schaffen überhaupt – ist durchgehend eine freie und bewegliche Behandlung der Metrik zu beobachten (siehe beispielsweise das Intermezzo op.118 Nr.6, das aussieht wie notierte Improvisation und auch so klingt); Phrasen werden auf unübliche Längen gedehnt, und die Taktstriche werden in ihrer gliedernden Eigenschaft häufig nicht den Regeln entsprechend eingehalten. Das Stück beginnt mit soliden Vierkant-Phrasen im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich mit zwei Phrasen zu je vier Takten (man beachte auch Takt 9 und später Takt 18, die Rückblicke im kleinen sind). Aber obwohl das Stück gemessen beginnt – vielleicht gerade weil es gemessen beginnt –, gibt sich Brahms im Mittelteil ausschweifend phantasievoll und schreibt Phrasen von abenteuerlich regelwidriger Länge. Höchst bemerkenswert ist auch die Nr.4 des Opus 116, ebenfalls ein Intermezzo, ein ergreifendes, wehmütiges Stück, das harmonisch feinsinnig und fragil zwischen E-dur und cis-moll schwankt. Das ganze Opus 116 hindurch blitzen immer wieder Anklänge an Schumann auf: in den Synkopierungen der Baßlinie des Capriccios in d-moll, in der schwungvollen melodischen Bewegung des Capriccios in g-moll, in dem charakteristischen federnden Rhythmus des e-moll-Intermezzos. Es ist eine eigenwillige Mischung, aber wir sollten uns vor Augen halten, was in The Compleat Brahms über das a-moll-Intermezzo gesagt wurde, und es auf diesen reizvollen Zyklus als Ganzes beziehen: “Als Hörer wandern wir blind durch dieses unbekannte Gelände, aber es nimmt uns wohlwollend einer bei der Hand, der dort zu Hause ist.”10

Die Klavierstücke des Opus 119 – drei Intermezzi und als Anhang und Schlußstück eine Rhapsodie – sind nicht ganz so unergründlich. 1892 zusammen mit den sechs Klavierstücken des Opus 118 entstanden, sollten es die letzten Werke des Komponisten für Klavier allein werden. Es ist dies eine Musik von großer Sparsamkeit der Mittel. Das erste Intermezzo beispielsweise baut auf einer Folge von Undezimenakkorden auf, wobei Dissonanzen so aufgelöst werden, daß sich neue Dissonanzen ergeben; das zweite Intermezzo schöpft sein melodisches Material aus einem Sechs-Ton-Motiv; das dritte basiert auf einem viertönigen Themenkern. Aber diese Stücke beeindrucken durch die Gefühle, die aus ihnen sprechen: die Wehmut des ersten Intermezzos, die kontemplative Innenschau des zweiten, die Heiterkeit des dritten, freilich eine Heiterkeit, die sich mit Traurigkeit mischt. Die Rhapsodie, die den Zyklus abrundet, ist so extravertiert, wie das erste Intermezzo introvertiert ist. Der Überschwang und die Entschlossenheit seiner Hochstimmung legt den Gedanken nahe, daß es mit den drängenden persönlichen Mitteilungen, wie sie für die vorausgehenden Stücke – ja die gesamte Klaviermusik des Brahmsschen Spätschaffens – charakteristisch waren, nun sein Bewenden haben soll oder daß es sie nie gegeben hat.Trotz der Aura der Vertraulichkeit, die sie umgibt, stellen diese Werke hohe Anforderungen an den Pianisten. In einem Brief an Clara Schumann räumt Brahms ein, daß es in dem Intermezzo, mit dem das Opus 119 beginnt, “wimmelt von Dissonanzen”, und er erläutert ihr, wie es zu spielen ist: “Das kleine Stück ist ausnehmend melancholisch, und “sehr langsam spielen” ist nicht genug gesagt. Jeder Takt und jede Note muß wie ritard. klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle, mit Wollust und Behagen aus besagten Dissonanzen!”11

Charles Rosen hat Betrachtungen über die kalkulierte Sprödigkeit einer arpeggierten Figur angestellt, von der Brahms in der das Opus 119 beschließenden Rhapsodie Gebrauch macht (und die in einer leichter zu spielenden Variante bereits in Takt 19 ff. erklang): “Diese wohlüberlegte Entscheidung für das sperrig zu Spielende wirkt sich auf den Klang aus, den das Ohr ebenfalls als sperrig empfindet… Es schmeichelt dem Ohr weniger wie auch der Hand, dafür ist es von sehr viel größerem Reiz.”12

Rosen vertritt auch die Ansicht, Brahms sei “womöglich der einzige Komponist gewesen, der begriffen hatte, daß die Wiederbelebung einer Tradition der Vergangenheit nicht nur ein heikles Unterfangen, sondern auch schwer zu bewerkstelligen war…

9 Denis Matthews, Brahms Piano Music, University of Washington Press, S. 60.

10 The Compleat Brahms, ed. Leon Botstein, W.W. Norton, S. 188.

11 Clara Schumann - Johannes Brahms, Briefe 1853-1896, Hrsg. Berthold Litzmann, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1927.

12 Charles Rosen, Charles Rosen, Critical Entertainments, Harvard University Press, S. 169.

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[er] liebte die Tradition der reinen Instrumentalmusik, aber er wußte, daß sie nicht einfach wiederholt werden konnte. Er setzte sie fort auf Wegen, die schon Beethoven beschritten hatte, und machte bewußt von kompositorischen Materialien Gebrauch, die frühere Komponisten verschmäht hätten, weil sie sie für zu kunstlos und einer komplexen Ausdrucksgestaltung abträglich gehalten hätten. Dabei war es gerade der Gegensatz zwischen der Schlichtheit des Ausgangsmaterials und der anspruchsvollen Durchführung, der den Werken Beethovens ihre ungeheure Kraft verlieh… Brahms wählte musikalisches Material, das möglicherweise selbst Beethoven als zu wenig ergiebig verworfen hätte: simple Tonverbindungen, die häßlich und sperrig waren und sich der thematischen Durchführung widersetzten. Er wußte, daß das Sperrige das Potential höchster Expressivität enthielt, und er wußte, wie es auszuschöpfen war.”13

Diese Einschätzung ist sicherlich nur eine Annäherung, dennoch ist sie hilfreich für das Verständnis der Kunst des großen Alchimisten.

GeorGe Gelles

Übersetzung Heidi Fritz

13 Ibid., S. 177.